Auf Tour mit den echten Rolling Stones
Fließgewässer gehören zu den stärksten formbildenden Kräften auf der Erdoberfläche. Die morphologischen Formen und Strukturen die sie erschaffen, sind an hydraulische Prozesse geknüpft, bei denen der Abtrag und die Verlagerung von Sedimenten durch fließendes Wasser eine entscheidende Rolle spielt. Solche Prozesse können relativ schnell ablaufen, so dass während eines einzigen Hochwasserereignisses neue Strukturen, wie Kiesbänke, Uferanbrüche, Nebengerinnen, Schotterterrassen, Runsen oder Umlagerungsbereiche entstehen, oder auch sehr langsam und viele Jahrhunderte bis Jahrtausende dauern, wie dies bei Erosionsprozessen in Festgesteinen und der Ausbildung von größeren Strukturen wie Mäanderschlingen oder auch den vielen unterschiedlichen Talformen (Schlucht, Klamm, Canyon, Kerb-, Trog-, Sohlen- oder Muldentälern) der Fall ist. Auch die Deltabildung an Flussmündungen oder die Verlandung von Seen sind Prozesse, die verhältnismäßig langsam ablaufen und ganz wesentlich vom Feststofftransport der Fließgewässer abhängen.
Die Feststoffe der Fließgewässer können in drei Kategorien unterteilt werden:
- Schwimmstoffe, wie Schwemmholz, Pflanzenteile oder auch Eis, machen durchschnittlich nur 2 bis 5% der Feststoffe in Gewässern aus.
- Schwebstoffe, bestehend Sand, Schluff, Lehm und organischem Substrat, werden durch Turbulenzen in Schwebe gehalten und bilden den Hauptanteil der Feststoffe in den Flüssen. Ein Beispiel: Die mittlere jährliche Schwebstofffracht der Donau bei Vilshofen beträgt über 5 Millionen Tonnen.
- Geschiebe, beinhaltet die größeren Feststoffe, also Kies, Schotter, Steine und Blöcke, die sohlennah hüpfend, rollend und gleitend transportiert werden. Anders als bei den Schwimm- und Schwebstoffen, die definitionsgemäß immer in Bewegung sind, setzt beim Geschiebe der Transport erst ab einer gewissen Abflusshöhe ein.
Der Sedimenttransport wird also in erster Linie vom Abfluss, zudem vom Sohlgefälle, den Gerinnedimensionen sowie der Sohlrauheit beeinflusst. Diese Faktoren sind nicht nur maßgebend für die Fließgeschwindigkeit der Flüsse, sondern auch für die sogenannte Schubspannung. Die Schubspannung (auch Schleppspannung genannt) ist eine physikalische Größe, welche die Reibungskraft der Strömung auf die Sohle und die Ufer beschreibt (mit der Einheit Newton/m²), und welche das Geschiebe in Bewegung versetzt, transportiert und dabei gleichzeitig zerkleinert und umformt. Üblicherweise nimmt das Gefälle der Flüsse vom Oberlauf zur Mündung hin ab und damit in der Regel auch die Transportkapazität. Dadurch wird die vorherrschende Korngröße des Sohlsubstrats nach Unterstrom kleiner, das heißt im Oberlauf findet sich meistens gröberes Geschiebe, während in den unteren Flussabschnitten Sande und Schluffe vorherrschen.
Die Feststofflieferung der Flüsse sowie die beschriebene Morphodynamik sind nicht nur an das Abflussgeschehen, sondern auch an die Verfügbarkeit und Mobilisierbarkeit von Sedimenten geknüpft. Natürlicherweise verfügen alle Fließgewässer über mehr oder weniger ergiebige Feststoffherde, die aus der Verwitterung und dem Abtrag von Gesteinen entstehen und sehr unterschiedliche Formen und Dimensionen annehmen können. Die Geologie spielt dabei eine wesentliche Rolle, insbesondere die Art der vorherrschenden Gesteine, deren Aufbau, Schichtung, physikalische und chemische Verwitterung und ggf. auch deren eiszeitliche Überprägung durch frühere Gletscher. In steileren Topographien sind die Erosionsprozesse stärker ausgeprägt als im Flachland und so finden sich insbesondere in den alpinen und montanen Regionen sehr vielfältige Feststoffherde, wie Ablagerungen aus Hang- und Verwitterungsschutt, Fels- und Bergsturzprozessen, tief- und flachgründige Rutschkörper, eiszeitliche Talverfüllungen, Schwemmkegel, Erosionsrinnen und Runsen sowie diverse Ufer- und Hanganbruchsformen. In besonders steilen Gerinnen können auch Muren entstehen. Dabei handelt es sich um einen wassergesättigten Erdrutsch, der in der Regel durch intensive Niederschläge ausgelöst wird, hohe Fließgeschwindigkeiten erreichen kann und aufgrund seiner Dichte von bis zu 2,6 Tonnen pro m³ eine sehr große Schubkraft entfaltet. Solche Murgänge können daher in Siedlungsräumen oder an Infrastrukturanlagen wesentlich größere Schäden anrichten als Hochwasserabflüsse gleicher Dimension.
Steilere Gewässerläufe sind in der Regel unverzweigt und erst mit abnehmendem Gefälle bilden sich einzelne Nebengerinne bis hin zu verzweigten und verflochtenen Flussläufen innerhalb breiter Talquerschnitte aus, in denen die Flüsse ihr Geschiebe regelmäßig ab- und umlagern, weitertransportieren und dabei fortwährend zerkleinern. Alluvionen werden die natürlichen fluvialen Sedimentablagerungen genannt, die viele Meter mächtig sein können und einen reichen Formenschatz der Fließgewässer ermöglichen. Die Flüsse erschaffen unterschiedlichste Gerinneformen und Gerinnebettmuster, sie bilden Windungen und Mäander, Prall- und Gleithänge, Altgewässer, Seitenarme, Kiesbänke, Schotterfluren und Umlagerungsstrecken aus. Die verschiedenen Erosions-, Transport- und Ablagerungsprozesse führen somit dazu, dass sehr vielfältige und dynamische Fließgewässerlandschaften auf unserer Erde entstehen, die zu den artenreichsten und ökologisch wertvollsten Lebensräumen zählen. Fließendes Wasser und Geschiebe bilden die Grundlage für die Erschaffung von vielen unterschiedlichen Habitaten sowohl im Wasser wie auch darüber hinaus, es entstehen biologisch eng vernetzte Einheiten mit Wasserläufen und Auen, den angrenzenden Feuchtbiotopen und ihren diversen morphologischen Strukturen.
Leider führen menschliche Eingriffe jedoch oft zu gravieren Veränderungen in diesen sensiblen Ökosystemen und inzwischen sind natürliche Flusslandschaften weltweit massiv gefährdet. So gibt es in Mitteleuropa praktisch keinen Fluss mehr, der nicht einer menschlichen Nutzung unterworfen wurde und in Deutschland weisen nur noch 0,1% der Fließgewässer einen guten ökologischen Zustand auf. Praktisch alle Flüsse wurden hierzulande in den letzten Jahrhunderten systematisch verbaut, begradigt, befestigt, eingedeicht, durch Wasser- und Geschiebeentnahmen, Stauanlagen und Verrohrungen massiv gestört und ökologisch degradiert.
Innerhalb dieser weitreichenden Zerstörungen der natürlichen Gewässerlandschaften bildet der Umgang der Menschen mit dem Geschiebe ein besonderes Kapitel. Die natürlichen Sedimentumlagerungen in den Fließgewässern verursachen häufig Beeinträchtigungen an menschlichen Nutzungen und sind daher in der Regel unerwünscht. Einige Beispiele: Geschiebe und andere Feststoffe in den Flüssen führen zu Verlandungsprozessen an Stauhaltungen (Talsperren, Absetzbecken, Hochwasserrückhaltebecken, etc.), zu Ablagerungen in Wasserstraßen und an den Gewässersohlen in Siedlungsbereichen bzw. in sonstigen Bereichen von Hochwasserschutzanlagen, was eine Erhöhung der Wasserspiegellagen und damit Verringerung der Schutzwirkungen baulicher Anlage wie Deichen und Mauern bewirkt oder die Schifffahrt erschwert. Um diesen Prozessen entgegenzuwirken, werden Gewässer, die meist ohnehin schon massiv geschädigt sind, immer wieder ausgebaggert und ausgeholzt, so dass sich die Natur nie vollständig erholen kann. Zudem wird auch mit dem Bau weiterer Bauwerke versucht, unerwünschten Sedimentablagerungen und Erosionen entgegenzuwirken. Solche Bauwerke sind beispielsweise Sohl- und Böschungsbesfestigungen (in der Regel aus Wasserbausteinen und/oder Beton), Grundschwellen, Geschieberückhaltebecken und Geschiebedosiersperren, Murbrecher und Murfangsperren, Konsolidierungssperren, Deckwerke, Buhnen, Rampen und vieles mehr. Nicht selten führen solche Maßnahmen dazu, dass die Probleme nur weiter nach Unterstrom verlagert werden, wo sie wieder weitere Verbauungen nach sich ziehen oder sogar Geschiebe mit großem technischem Aufwand wieder eingebracht werden muss, um die verursachten Defizite im Feststoffhaushalt auszugleichen. Die Folgen dieser vielschichtigen menschlichen Eingriffe sind aus ökologischer Sicht oft gravierend, denn sie führen in der Regel zur Verringerung der morphologischen Gewässereigendynamik und lösen damit nicht selten weitreichende negative Kettenreaktionen aus. So führt beispielsweise die regelmäßige künstliche Rückhaltung und die Entnahme von Sedimenten in den Oberläufen zur Eintiefung der Fließgewässer in den unterhalb befindlichen Strecken, was eine Absenkung des Grundwasserspiegels nach sich zieht. Als Konsequenz kommt es dann zum Trockenfallen der gewässernahen Feuchtgebiete und Auwälder, zur Verringerung der Ausuferungshäufigkeiten, zum Verlust von aquatischen Lebensräumen und letztlich zur Abnahme der Biodiversität. Fehlt das Geschiebe in den Flussbetten, so finden Geschiebeverlagerungen nicht mehr in ausreichendem Maße statt und Kiesbänke, Schotterfluren und Umlagerungsstrecken wachsen großflächig und dauerhaft mit Pionierpflanzen (meistens Weiden) zu. Das erscheint auf den ersten Blick vielleicht nicht besonders tragisch, doch diese scheinbar leblosen Kies- und Schotterflächen sind wichtige Habitate von hochspezialisierten Tier- und Pflanzenarten, wie Flussuferläufer, Flussregenpfeifer, Kiesbankgrashüpfer, Deutsche Tamariske, etc., die auf geschiebereiche Hochwasserabflüsse und regelmäßige Geschiebeumlagerungen angewiesen sind. Durch die zunehmende Verbuschung dieser Flächen sind viele dieser Arten inzwischen in ihren Beständen stark gefährdet, teilweise vom Aussterben bedroht und in vielen Regionen auch schon gänzlich verschwunden.
Aber nicht nur ein künstlich verursachtes Geschiebedefizit kann für die Natur problematisch sein, sondern auch das Gegenteil, wenn der Mensch zu viele Sedimente in die Gewässer einbringt. Dies geschieht oft ungewollt durch die großflächigen, intensiven land- und forstwirtschaftlichen Nutzungen entlang der Gewässer. Insbesondere bei Abholzungen und ackerbaulichen Nutzungen werden durch Niederschläge sehr große Mengen an Feinsedimenten aus den oberen Bodenschichten erodiert und in die Gewässer eingetragen. Diese Feinsedimente bewirken dort eine Verschlammung und Abdichtung der Sohlzwischenräume, was als Kolmation bezeichnet wird und ebenfalls mit ökologisch nachteiligen Auswirkungen in dieser normalerweise sehr belebten Übergangszone zwischen Grundwasser und Oberflächenwasser verbunden ist, insbesondere wenn diese Feinsedimente auch noch mit Düngemitteln, Pestiziden, Mikroplastik und sonstigen Fremd- und Schadstoffen belastet sind.
Die Bedeutung des Geschiebes für die Ökologie der Fließgewässer wird leider noch viel zu oft unterschätzt oder bewusst ignoriert. Wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein für die Zusammenhänge um den Geschiebe- und Sedimenttransport unter Berücksichtigung der Empfindlichkeit der Gewässerökosysteme gegenüber unseren Eingriffen in diese natürlichen Prozesse. Nur wenn wir uns zurücknehmen und den Flüssen wieder mehr Raum für ihre ungestörte Entwicklung bereitstellen, können sich auch die vielen verschiedenen und wertvollen Lebensräume entwickeln, die wir für eine gesunde Artenvielfalt auf unserer Erde zwingend brauchen.