Ein Zeichen hoher Biodiversität
Fließendes Wasser sucht sich immer den Weg des geringsten Widerstands. Ein Flusslauf folgt ebenfalls diesem Prinzip, wobei sich die Fließwege der Flüsse durch eigendynamische Prozesse verändern können. Diese Eigendynamik von Fließgewässern wird im Wesentlichen durch zwei Faktoren beeinflusst, die beide räumlich und zeitlich veränderlich sind, diese sind der Abfluss und die Feststoffführung. Typische Kennzeichen von solchen eigendynamischen Veränderungen sind zum Beispiel „wandernde“ Kies- und Sandbänke, Flussschlingen, Mäander, Flussverzweigungen, Umlagerungsstrecken, Schotterterrassen oder auch Altgewässer.
Altgewässer sind Reste alter Flussschlingen. Wenn ein natürlicher Fluss innerhalb von leicht erodierbaren Sedimenten verläuft, so kommt es mit der Zeit aufgrund von ungleichmäßigen Turbulenzen zu sogenannten Laufverlagerungen. Bei den dabei enstehenden Krümmungen bilden sich zwei gegensätzliche Strömungsbereiche aus, ein Gleithang an der Innenseite und ein Prallhang an der Außenseite. Am Prallhang greift das Wasser mit größerer Kraft die Ufer an und erodiert diese, während sich am Gleithang ein flaches Ufer ausbildet und Sedimente abgelagert werden. Mit der Zeit wird diese Krümmung infolge der zunehmenden Seitenerosion am Prallhang immer größer und es entwickelt sich zunächst eine Flussschlinge und mit weiterem Fortschreiten ein Mäander. Dabei kann es passieren, dass der Fluss am sogenannten Mäanderhals durchbricht und seinen Lauf dadurch wieder verkürzt. Aus der alten Flussschlinge bzw. dem Mäanderbogen entsteht dann ein Altarm, der in der Regel zunächst noch an den Fluss angeschlossen ist und von diesem teilweise auch noch im geringen Umfang durchströmt wird. Der Hauptabfluss erfolgt jedoch nun überwiegend im Durchstich, da hier das Gefälle steiler ist und der Fluss ja bestrebt ist, dem Weg des geringsten Widerstands bzw. dem größten Gefälle zu folgen. Der Altarm verlandet mit der Zeit immer mehr und verliert dabei den Anschluss an den Fluss, zunächst an einer Seite der beiden Enden, dann spricht man von einem einseitig angeschlossenen Altarm, und irgendwann dann beidseitig – sofern der Fluss diesen Altarm nicht durch eine erneute Laufverlagerung wieder aktiviert. Sobald der Altarm die oberirdische Verbindung zum Fluss verliert, wird er zum sogenannten Altwasser. Altwässer werden nun nicht mehr durchströmt, sondern nur noch bei Hochwasserabflüssen überströmt, und sie haben den Charakter von Stillgewässern. Aufgrund ihrer typischen Form werden sie als Sichel- oder Halbmondseen bezeichnet (im Englischen „oxbow lakes“).
Mäanderdurchbrüche und Altgewässer entstehen jedoch nicht nur auf natürlicher Weise. Der Mensch hat in der Vergangenheit die meisten großen Fließgewässer in Mitteleuropa künstlich begradigt und dabei unzählige Mäander und Flussschlingen abgetrennt. Die vielen (teil-)verlandeten Altgewässer sind vielerorts noch als Überbleibsel der alten Flusslandschaften aus der Luft und in Kartenwerken zu erkennen. Da eine Trockenlegung dieser abgetrennten Flussschlingen früher meistens zu aufwendig und unrentabel war, sparte man sie zunächst als nicht nutzbare Wasserflächen bei der Erschließung von Siedlungsgebieten sowie der Land- und Forstwirtschaft aus. Mit zunehmender Verlandung rückten sie dann nach und nach wieder in den Fokus menschlicher Nutzungsinteressen und viele dieser Altgewässer verschwanden somit mit dem steigendem Flächenverbrauch der wachsenden Bevölkerung. Erst sehr spät, ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts hat man langsam erkannt, dass diese Altgewässer aus ökologischer Sicht sehr wertvolle und schützenswerte Lebensräume sind. Sehr viele spezialisierte Tierarten, insbesondere Fische, Insekten, Vögel und Amphibien nutzen diese Stillgewässerbereiche als Lebens- und Rückzugsraum, was auch dadurch verstärkt wird, dass die Flüsse selbst infolge der intensiven menschlichen Eingriffe immer schlechtere Lebensbedingungen aufweisen und die Auen großflächig trockengelegt und in monotone Agrarlandschaften verwandelt wurden.
Die Chancen, dass sich neue Altgewässer in unserer Kulturlandschaft entwickeln, stehen eher schlecht, denn die Flüsse sind inzwischen massiv verbaut und auf langen Strecken eingedeicht. Zum Schutz von Siedlungen, Infrastruktur, Land- und Forstwirtschaft lässt man ihnen keinen Spielraum mehr für eine Eigendynamik. Somit können sich auch keine Schlingen, Mäander und Altarme mehr ausbilden. Wir haben mit unserer Überbevölkerung einen unstillbaren Flächenfraß ausgelöst, bei dem die Flüsse und die Natur allgemein das Nachsehen haben. Dieser Entwicklung müssen wir dringend gegensteuern. Es braucht wieder mehr freie Flächen und Entwicklungskorridore für die Fließgewässer, in denen wir ihre Eigendynamik zulassen und sie als eine Bereicherung in unserer überzivilisierten Welt ansehen. Wir müssen wieder stärker mit der Natur und für die Natur arbeiten und nicht gegen sie. Die Renaturierung von Fließgewässern bildet einen wichtigen Beitrag dazu. Sie dient nicht nur der Sicherung der Artenvielfalt, sondern ganz wesentlich auch der Verstärkung unserer Bemühungen gegen den Klimawandel, gegen zunehmende Trockenperioden, für besseren Hochwasserschutz und letztendlich für unsere eigene Lebensqualität.